Dissonanz der Macht

Der Schostakowitsch-Abend an der HfMT

Grußwort

Liebes Publikum,

Die Hochschule für Musik und Theater freut sich, mit diesem Schostakowitsch-Festival einen Raum zu eröffnen, in dem künstlerische Neugier, historische Reflexion und gemeinsames Lernen auf besondere Weise zusammentreffen. Der Abend ist Ergebnis einer intensiven Zusammenarbeit von Lehrenden und Studierenden, die sich mit großem Engagement der musikalischen Welt Dmitri Schostakowitschs gewidmet haben. Heute erhalten Sie die Möglichkeit, einen umfassenden Einblick in das Werk eines der wichtigsten Komponisten des 20. Jahrhunderts zu gewinnen. Schostakowitschs Werk steht wie kaum ein anderes für die Spannungsfelder des 20. Jahrhunderts: zwischen Anpassung und Aufbegehren, zwischen persönlichem Ausdruck und politischem Druck, zwischen Hoffnung, Angst und tiefem Humanismus. Diese Ambivalenzen verleihen seiner Musik eine Aktualität, die uns gerade heute eindringlich berührt.

In einer Zeit, in der der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine großes Leid verursacht und die kulturellen Beziehungen zwischen Ländern und Menschen auf eine harte Probe stellt, ist es uns ein besonderes Anliegen, Schostakowitschs Musik nicht losgelöst von der Gegenwart zu betrachten. Wir glauben jedoch fest daran, dass Kunst Räume schaffen kann, in denen Dialog, Empathie und kritisches Nachdenken möglich bleiben.

Mein Dank gilt allen Mitwirkenden, insbesondere dem Initiator und Organisator Prof. Stepan Simonian, den musizierenden Lehrenden und Studierenden, und allen weiteren Menschen, die zum Gelingen dieses besonderen Abends beitragen.

Ihr
Prof. Dr. Jan Philipp Sprick

Konzept

Dieser Abend richtet den Blick auf einen Komponisten, der im Spannungsfeld zwischen staatlicher Kontrolle und künstlerischer Integrität arbeitete. Schostakowitsch musste sich den Vorgaben des stalinistischen Regimes beugen und wurde zugleich wiederholt als „Formalist“ verurteilt. Dennoch entwickelte er Strategien, um seine ästhetische Haltung zu bewahren und musikalische Aussagen zu formulieren, die das Offizielle unterlaufen.

Die Dramaturgie des Abends folgt dieser Doppelbewegung: Anpassung in der Oberfläche, Widerstand im Kern. In den ausgewählten Werken wird hörbar, wie Schостакowitsch emotionale Wahrheiten verschlüsselte und Räume eröffnete, in denen individuelle Erfahrung trotz politischer Überwachung Bestand haben konnte. Angesichts der aktuellen Lage in Russland und eines Regimes, das erneut Opposition unterdrückt und Kritik zum Verstummen bringen will, erhält diese Musik bedrückende Aktualität. Sie erinnert daran, dass Macht sich stets an der Kunst reibt – und dass Kunst eine ihrer wirksamsten Gegenkräfte bleibt.

Mein Dank gilt den Studierenden und Kolleg*innen, deren Engagement, Disziplin und Offenheit diesen Abend erst ermöglicht haben.
Stepan Simonian

Programmübersicht

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Zeit: 17:00 – 17:45

Mendelssohn-Saal · 17:00 · Auftakt

Das 1940 entstandene Klavierquintett zählt zu den zugänglichsten Werken Schostakowitschs. Geschrieben in einer Phase relativer politischer Stabilität nach den großen Säuberungen, bewegt sich das Werk zwischen introvertierter Einkehr und demonstrativer Klarheit. Seine Verbindung von barocker Strenge und moderner Transparenz wirkt wie ein persönlicher Versuch, Ordnung in eine Zeit der ideologischen Unsicherheit zu bringen.

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Zeit: 17:15 – 17:50

Orchesterstudio · 17:15 · Horizonte

Das Klaviertrio entstand 1944, mitten im Zweiten Weltkrieg, und ist als Trauerarbeit nach dem Tod von Schostakowitschs Freund Iwan Sollertinski zu verstehen. Die Widmung an ihn verleiht dem Werk eine besondere emotionalen Schwere. Die Musik schwankt zwischen elegischer Starre und bissiger Groteske; im Finale erscheinen jüdische Tanzmotive als Ausdruck von Überlebenswillen. Neben dem militärischen Kampf gegen den Nationalsozialismus stand die Sowjetunion zugleich unter strengster ideologischer Kontrolle.

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Zeit: 18:00 – 19:00

Forum · 18:00 · Eröffnungskonzert

Das Zweite Klavierkonzert, 1957 komponiert und dem Sohn Maxim zum 19. Geburtstag gewidmet, wirkt auf den ersten Blick heiter, trägt jedoch einen doppelten Boden: formale Leichtigkeit über einer brüchigen orchestralen Textur. Es entstand im „Tauwetter“ der Chruschtschow-Zeit, in der vorsichtige Öffnungen die erstarrten Jahre des Stalinismus ablösen sollten. Weinbergs 1991 vollendete Symphonie Nr. 21 „Kaddisch“ ist eine monumentale Erinnerungsarbeit an den Holocaust und an seine ermordete Familie; der Titel verweist auf das jüdische Totengebet. Weinberg, 1939 vor dem Nationalsozialismus nach Russland geflohen, lebte lange im Schatten sowjetischer Überwachung, erst die späte Perestroika ermöglichte eine freiere Auseinandersetzung mit jüdischer Thematik. Schostakowitschs Konzert Nr. 1 von 1933 ist ein frühes Beispiel seines satirischen Stils: Virtuosität, Zitatlust und abrupte Stimmungswechsel spiegeln die Unsicherheit der frühen Stalin-Ära. Das Werk ist weniger ein Klavier- als ein Doppelkonzert, da die Trompete eine nahezu gleichberechtigte Rolle spielt.

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Zeit: 19:15 – 20:00

Orchesterstudio · 19:15 · ZeitEnde

Messiaen komponierte das Quartett 1940/41 im Kriegsgefangenenlager Stalag VIII A; die Uraufführung fand dort statt, mit improvisierten Instrumenten und erfrorenen Fingern. Der Text aus der Apokalypse spricht von der Überwindung der Zeit – ein Gedanke, der in einem Europa, das im Krieg versank, wie ein leiser, unbeirrbarer Widerstand wirkte.

Die Entscheidung, dieses Werk neben das Klavierquintett von Schostakowitsch zu stellen, entstand aus dem Wunsch, zwei Meilensteine der Klavierkammermusik miteinander in Resonanz zu bringen. Beide entstanden fast gleichzeitig, von nahezu gleichaltrigen Komponisten – Schostakowitsch 1906 geboren, Messiaen 1908 – und doch unter radikal verschiedenen Bedingungen. Während Messiaen in Gefangenschaft schrieb, arbeitete Schostakowitsch im Schatten der persönlichen Schikane durch Stalin, der Hetze in der Presse und einer realen Bedrohung seines Lebens, von der er sich erst allmählich erholte. Beide Länder befanden sich im Krieg, Frankreich innerlich zerrissen, Russland 1941 noch unter dem deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakt.

Gerade diese Konstellation macht die Gegenüberstellung so anziehend: Zwei Musiker, gefangen in der Härte ihrer Zeit, finden zu Ausdrucksformen, die unterschiedlicher kaum sein könnten – und doch denselben Wunsch teilen, das Menschliche im Klang zu bewahren.

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Zeit: 19:15 – 21:45

Mendelssohn-Saal · 19:15 · BachSchatten

Die Sammlung der 24 Präludien und Fugen entstand 1950/51 nach Schostakowitschs Aufenthalt beim Bach-Wettbewerb in Leipzig. Inspiriert vom „Wohltemperierten Klavier“ schuf er eine moderne, oft ironisch gebrochene Hommage. Die Widmung an Tatjana Nikolajewa, die das Werk uraufführte, unterstreicht seine Nähe zur pianistischen Tradition. Die Sowjetunion war damals von Debatten über „Formalismus“ geprägt; Schostakowitsch setzte mit seinem Zyklus einen leisen, aber deutlichen Akzent künstlerischer Unabhängigkeit.

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Zeit: 20:15 – 20:45

Forum · 20:15 · Präludien

Die 1933 entstandenen Präludien op. 34 markieren eine Phase spielerischer Freiheit: kurze, pointierte Stücke, in denen Schostakowitsch rhythmisch leicht, experimentierfreudig und mit hörbarem Witz arbeitet. Zahlreiche Widmungen an befreundete Musiker zeichnen das Bild eines lebendigen Netzwerks in einer Zeit, in der die Kulturpolitik zwar bereits unter stalinistische Kontrolle geriet, sich jedoch noch im Übergang befand.

Gemeinsam mit der Cellosonate op. 40 gehören die Präludien zu den letzten Instrumentalwerken vor dem berüchtigten Zeitungsartikel „Chaos statt Musik“, der Schostakowitschs künstlerische Situation radikal veränderte. Danach wurde sein Stil spürbar konservativer; die provokante Freiheit dieser Stücke weicht später einer vorsichtigen Selbstzensur.

In diesem Konzert erscheinen die Präludien sowohl in ihrer ursprünglichen Klavierfassung als auch in einer Bearbeitung der Saxophonistin Asya Fateyeva. Dadurch entsteht ein reizvoller Dialog zwischen Original und Interpretation – ein Echo jener früheren Freiheit, das in andere Klangfarben übersetzt wird.

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Zeit: 20:50 – 21:10

Fanny-Hensel-Saal · 20:50 · Narben

Das Streichquartett c-Moll op. 110, 1960 in Dresden vollendet, trägt die Spuren einer biografischen und historischen Erschütterung. Schostakowitsch widmete es „den Opfern von Faschismus und Krieg“ – doch der persönliche Subtext ist unüberhörbar: das immer wiederkehrende DSCH-Motiv, sein klingendes Initial, zieht sich durch alle Sätze wie eine Selbstbefragung. Dresden, noch gezeichnet von den Ruinen des Bombenkriegs, bot den Resonanzraum für eine Musik, die zwischen Trauer, Selbstanklage und innerem Zusammenbruch oszilliert.

Das Quartett entsteht zu einem Zeitpunkt, an dem Schostakowitsch unter politischem Druck der Sowjetführung unterschrieb, was er innerlich ablehnte. Die düsteren Choralpassagen, die verzerrten Tänze und das erstarrte Finale wirken wie ein verschlüsseltes Tagebuch jener Jahre – ein Werk, das als persönliches wie als kollektives „Requiem“ gelesen werden kann. In seiner schonungslosen Reduktion findet sich eine stille, fast unbeirrbare Wahrheit: Musik bewahrt, was Worte nicht tragen können.

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Zeit: 21:00 – 21:40

Orchesterstudio · 21:00 · Leuchten

Die 1901 vollendete Cellosonate, dem Cellisten Anatoli Brandukow gewidmet, entstand in einer Phase persönlicher Erholung und markiert Rachmaninows erneuten schöpferischen Aufbruch. Für dieses Programm wurde sie gewählt, um eine Brücke zu dem Russland zu schlagen, in das Rachmaninow hineingeboren wurde – ein kulturelles Umfeld, das wenige Jahre später durch die Revolution unwiederbringlich zerbrach. Rachmaninow empfand diesen Umbruch als persönliche Katastrophe; nach seiner Emigration verstummte er für mehr als fünfzehn Jahre als Komponist.

Schostakowitsch hingegen war ein „Kind der Revolution“, geprägt von völlig anderen gesellschaftlichen Voraussetzungen. Gerade dieser Gegensatz – hier die Klangwelt eines untergehenden alten Russlands, dort die künstlerische Prägung in einem neuen, ideologisch bestimmten Staat – macht die Gegenüberstellung der beiden Komponisten in diesem Konzert so reizvoll und aufschlussreich.

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Zeit: 21:20 – 23:00

Forum · 21:20 · SonatenGeflecht

Die Violasonate op. 147 aus dem Jahr 1975 ist Schostakowitschs letzte vollendete Komposition. Sie ist seinem engen Freund Fjodor Druschinin gewidmet und entstand während schwerer Krankheit. Das Werk blickt hörbar zurück, sucht Nähe zum Spätstil Beethoven und entfaltet eine stille Resignation. In der politischen Stagnation der Breschnew-Ära wirkt die Sonate wie ein persönliches Abschiedsdokument. Die Violinsonate op. 134, 1968 für David Oistrach komponiert, zählt zu Schostakowitschs düstersten Spätwerken. Der politische Hintergrund – Prager Frühling, sowjetische Invasion und ein Klima tiefgreifender Verunsicherung – prägt die formale Strenge und die entrückte Ruhe des Finalsatzes. Die Cellosonate von 1934, Viktor Kubatzki gewidmet, entstand in einer frühen Phase des Stalinismus. Kulturelle Repressionen verschärften sich, doch der staatliche Druck war noch nicht vollständig erstarrt; das Werk bewahrt etwas von Schostakowitschs persönlicher Freiheit vor der kommenden ideologischen Enge.

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Zeit: 22:00 – 22:30

Fanny-Hensel-Saal · 22:00 · Konturen

Die fünf Präludien op. 2 (1907/08) dokumentieren den frühen Stil des jungen Schostakowitschs: verspielt, formbewusst und mit wachem Ohr für neue Ausdrucksmöglichkeiten. Russland befand sich kurz nach der Revolution von 1905 weiterhin in politischer Spannung. Die Drei Fantastischen Tänze, 1920–22 während Hunger und Bürgerkrieg entstanden, sind knapp, ironisch und rhythmisch scharf konturiert – frühe Zeugnisse einer satirischen Handschrift. Die Aphorismen op. 13 von 1927 verdichten jugendlichen Experimentierwillen in ultrakurzen Charakterstücken; sie verbinden absurden Humor mit präziser Formschärfe. Das „Notenbuch eines Kindes“, 1944 für seine Tochter Galina geschrieben, zeigt einen selten privaten Tonfall zwischen Märchen, Spiel und stiller Traurigkeit – ein Moment familiärer Nähe inmitten des Krieges.

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Zeit: 22:45 – offen

Orchesterstudio · 22:45 · Bewegend

Die Klaviersonate Nr. 1 von 1926 ist ein Dokument jugendlicher Radikalität: modernistisch, energiegeladen, kantig. In der frühen Sowjetunion war die Avantgarde noch möglich, bevor politische Vorgaben das Ausdrucksspektrum einengten.

Die zweite Klaviersonate, 1943 entstanden, ist ein deutlich introspektiveres Werk: Musik der Kriegsjahre, durchzogen von Verlust, Müdigkeit und ernster Konzentration. Gewidmet ist sie dem Andenken an Leonid Nikolajew, Schostakowitschs Klavierprofessor am Leningrader Konservatorium – ein legendärer Pädagoge, zu dessen Schülerinnen und Schülern unter anderem Mariya Yudina und Vladimir Sofronitsky gehörten.

Die „Puppentänze“ der 1950er-Jahre entfalten humorvolle Miniaturen mit feiner Ironie unter kindlich anmutender Oberfläche.

Das Concertino op. 94 von 1953, für zwei Klaviere geschrieben und häufig als Stück für den Sohn Maxim bezeichnet, zeigt einen transparenten, neoklassischen Ton und eine fast heitere Unbekümmertheit.

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Zeit: 23:00 – 23:25

Mendelssohn-Saal · 23:00 · Zeichen

Die 1953 entstandene fünfte Violinsonate Weinbergs fällt in das Jahr von Stalins Tod – ein politischer Wendepunkt. Weinberg stand damals unter massivem Druck und war zeitweise inhaftiert. Die Sonate ist geprägt von intensiver Melancholie, energischer Motorik und einer inneren Unruhe, die die Unsicherheiten dieser Übergangszeit eindringlich hörbar macht.